Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Mari Boine live in der Passionskirche Berlin 9.11.2010 Im äußersten Norden Skandinaviens, wo man die bunt leuchtenden Tänze der Aurora Borealis am Himmel erleben kann und Wald, Tundra und Sümpfe irgendwo fern mit dem Horizont verschmelzen, dort lebt seit hunderten von Jahren das Volk der Samen. Die Erscheinungen der Natur haben nach ihrem Verständnis eine Seele und mit Hilfe von Schamanen ist es möglich, mit ihnen zu sprechen. Dafür benutzen sie eine heilige Zaubertrommel (Gievriej), bearbeiten sie mit kleinen Knochen. Über die pulsierenden Rhythmen, der so entstehen, kann man ihre Joik-Gesänge hören. Wer sich fallen lässt, fühlt sich frei, gerät in Trance und wird Dinge erkennen, die wir sonst nicht sehen und spüren können …. Es klingt beinahe wie Fantasie oder gar Zauberei, doch wer offen genug ist, Musik nicht nur hören, sondern auch erleben zu wollen, fand sich gestern in der Kreuzberger Passionskirche ein, um diesen besonderen Klängen zu lauschen, sich fallen zu lassen und in diese andere (Klang)Welt einzutauchen. Mari Boine, die moderne Schamanin aus dem Land der Samen mit einer uralten Kulturtradition, war gekommen und genau deshalb bin ich auch nach Berlin gefahren. Es ist, bis auf einen Tag später, genau vier Jahre her, dass ich am gleichen Ort sie das erste Mal live erleben konnte. Am 8. November 2006 - es war ihr 50. Geburtstag - da erlebte ich die zierliche und vor Energie sprühende Künstlerin zum ersten Mal. Damals fuhr ich verzaubert und süchtig gleichermaßen wieder nach Hause und wusste, dies möchte ich auf jeden Fall wieder erleben. Das besondere und faszinierende an Musik ist doch, dass sie völlig anders erklingen kann, als man sie sich mit seinen eigenen Erfahrungen vorzustellen vermag. Von genau daher, bezieht die Musik von Mari Boine ihren Reiz, ist jedes Konzert und jede neue Veröffentlichung anders und dennoch immer wieder unverkennbar SIE. Grund genug für eine kurzfristige Entscheidung mitten in der Woche. „Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hin wollen, aber als erste da sind.“ (Romain Gary). Genau dort war die Boine schon mit ihrer CD „Idjagiedas“ (2006) angelangt. Der aktuelle Silberling, „Sterna Paradisea“ (Küstenseeschwalbe), ist nur die elegantere Fortsetzung dessen. Samische Tradition hat moderne Lebensart getroffen und in Musik verwandelt. Von so einem Zusammentreffen träumen andere Künstler ein Leben lang. Draußen vor der Kirche fieselt ein grauer und frischer Novembertag vor sich hin. Drinnen im großen Raum mit den roten Ziegeln und der hohen weißen Decke fühlt sich alles angenehm warm an und während man sich auf den viel zu schmalen Bänken einen Platz sucht, steigt die Spannung unaufhaltsam. Endlich steht sie mit ihrer Band auf der Bühne, nur ein paar Meter direkt vor mir und ganz leise, alles noch a capella, schwingen die ersten leisen Töne im Raum, wie aus dem Nichts. „Okta“ ist ein ganz alter Samischer Folksong, wie sie später erzählt, und eine ihrer ersten Veröffentlichungen aus dem Jahre 1985. Von diesem Moment an scheint im Kircheninnern die Zeit zu verharren und als mit „Gula Gula“ einer ihrer ersten großen Songs folgt, versetzt sie uns mit den rhythmischen Grooves und den mystischen Trommeln in Schwingungen. Mein Körper bewegt sich von nun an sitzend in Schwingungen, wippen die Beine die Rhythmen mit und wenn es nicht so doof aussehen würde, müsste man eigentlich tanzend dem magischen Zauber folgen. Die kleine Lady da oben tut es, lässt sich in ihr eigenes Klangbild fallen und lebt die Emotionen auf der Bühne aus. Nichts ist gekünstelt oder gar künstlich, alles ist echt. Stück um Stück, Song für Song nimmt uns die Künstlerin mit auf eine Reise in eine Klangwelt, die hunderte Jahre alt zu sein scheint und dennoch so unaufdringlich neu ist. Zwischendurch lässt sie uns in englisch an ihren Gedanken teilhaben, die sie mit den jeweiligen Liedern verbindet. So spürt man ihren Stolz, eine vom Volk der Samen zu sein und es zu repräsentieren, indem sie ihre eigene Geschichte in Liedern erzählt. Sie spricht von der Verehrung der Natur, die uns irgendwann „wieder in ihren Schoß holt“. Nichts von all dem, was wir irgendwann im Kaufrausch sammelten, werden wir mitnehmen können, gibt sie zu bedenken. „Soria Moria Palassa“ von der aktuellen CD ist so ein leises Bekenntnis zur Natürlichkeit, bedrückend schlicht und deshalb so sehr emotional berührend. Die Antworten, die wir, gefangen in der Hektik des digitalen Alltags, suchen, sind vielleicht auch in solchen einfachen Worten zu finden. Vielleicht aber ist es die auch Sehnsucht nach Ausgeglichenheit, die mich bei der Boine so sehr in den Bann zieht. Spätestens bei „Vuoi Vuoi Mu“ (sprich: Wej Wej Mu) stecke ich selbst mittendrin. Die mystische Bassfigur zieht und lockt, der einzigartig intime Klang ihrer Stimme führt uns weg und wie die kleinen „gelben Vögel“ in diesem Lied schweben wir auf leichten Schwingungen ihrer faszinierenden Joik-Gesänge mit der Melodie einfach nur fort. Zum ersten Mal kann ich in ihrem Gesicht mitlesen, auch wenn ich die Sprache nicht verstehe. Für Momente, als sich unsere Blicke treffen, ist mir, als ginge es ihr umgekehrt ebenso. Nach einer kurzen Pause erklingt wieder Musik von der aktuellen Scheibe. Mit „Lene Majja“ schafft Mari Boine den Spagat, Samische Musiktradition in Pop zu übertragen und musikalische Horizonte zu ignorieren. Das Lied strahlt beinahe popige Fröhlichkeit aus und bleibt nur durch den fremdartigen Zauber der Sprache kantig und rau. Gleiches gilt für den Titelsong „Sterna Paradisea“, ein dezentes musikalisches Gleichnis, der Natur entlehnt und uns Menschen zum Nachdenken überlassen. Diese Küstenseeschwalbe („Sterna Paradisea“) ist der Zugvogel mit der längsten, weitesten Flugstrecke, die wir kennen. Er brütet drei Monate in den Nordpolarregionen, geht drei Monate auf die Reise in die Südpolarregion, um dort drei Monate zu „überwintern“. Danach braucht er wieder drei Monate für seine Reise um den halben Globus in den Norden. Auf der CD paart sie die Samische Klänge mit dem A-Capella-Chor namens „Abaquondisi Brothers“; fremd trifft auf exotisch. Live reduziert sie das Lied auf die schlichte Melodie und verzaubert damit ihre Hörer. , Vor mir, auf die steinernen Stufen zum Altar, haben sich zwei Knirpse gehockt. Die verstehen weder die Sprache, noch etwas von Pop, Folk oder Tradition. Doch sie lassen sich einfangen, sind weg und alle. Wahrscheinlich die einzigen im Kirchenraum, die vorbehaltlos nur genießen, als würden sie einer Märchenzählerin mit ihrer Gute-Nacht-Geschichte lauschen. Noch einmal wie ein Kind, unvoreingenommen, sein können, träumend die Welt verbessern …. Bevor ich mich wegträumen kann, holen mich die Rhythmen von „Idjagdiedas“ zurück. Jetzt wird gerockt und gegroovt. Die ersten tanzen am Rand. Der Song verleitet zum Mitsingen und Mitmachen. Es ist auch Gelegenheit für die Musiker, ihr Können mit dem Bass (Svein Schultz), hinter dem Percussionsarsenal (Gunnar Augland), mit Trompete und Xaphoon (Ole Jorn Myklebust) und den Gitarren (Georg Buljo) zu demonstrieren. Die Künstlerin läuft mit diesem Ensemble bei ihren Joik-Gesängen zu Höchstform auf und tanzt sich auf der Bühne beinahe in Trance. Ein verschwenderisches Stück Musik, das seine Wirkung vor allem aus dem Zusammenspiel von Stimme und Percussion bezieht. So könnte es bei den Schamanentänzen gewesen sein. Wenn’s am schönsten ist, so sagt der Volksmund doch eigentlich habe ich gerade erst richtig Lust bekommen und einige weitere Stücke, die ich von den CD’s kenne, hätte ich gern noch live gehört. Zu zwei weiteren Songs lässt sich Mari Boine mit Band noch einmal heraus locken. Beinahe ganz allein, nur mit zarten Gitarrentönen und dem Klang von Glöckchen, zelebriert sie die beiden Stücke. Der finale Höhepunkt ist „Impiliin Halesteami“, eine „Konversation mit Gott“, an der sie uns, die meisten mit stockendem Atem, teilhaben lässt. Noch niemals habe ich live eine Stimme so intensiv und eindringlich erlebt und fast bin ich geneigt, an eine Zauberin vor mir zu glauben. Einzigartig und vielleicht auch göttlich! In einem Kirchenhaus kann man nach so einem Erlebnis die Gedanken noch eine Weile nachklingen lassen. Erst als die meisten schon gegangen sind, nutze ich die Chance, ein paar Worte mit den Musikern zu wechseln, mir ein Stück greifbare Erinnerung zu holen und der singenden Schamanin beim Schreiben von Autogrammen in die blitzenden Augen zu sehen. Jetzt weiß ich es wieder: Musik ist Besinnung für die aufgewühlte Seele und nicht fader Alltagsquark aus dem Mainstream-Container. Es gibt sie noch, die stillen und beseelten Helden und Botschafter der Musik. Sie heißen Seele, Blut, Tränen, Herz und, an diesem Abend, Mari Boine.